Für keine Erzählung zum Gegenstand

Zu Jack Hausers »The Glorious Weirdness of Art & Cosmic: LIVE« Verwerfungslinien für einen dritten Raum der Performance (1. Beispiel)

TEXT: Sabina Holzer
KURSIV: Zitate aus
Jacques Derrida, Chora (dt. 2013)
FOTOS: Jack Hauser

Lesen um Weiterzuschreiben.
Vermerk. Hinweis. Notiz.

Ein Raum im Werden. Ein Raum im Offenen. Wer bin ich in einem Raum, der im Werden ist? Was ist das »Ich«? Und wer ist das »Du«? Wie können wir das herausfinden? Wie verhalte ich mich in einem Raum, der sich im Werden befindet (sich findet, – gerade und fortwährend sich erfindet), ohne mich an Kategorien und Identitäten zu klammern?

Ob sie das Wort chõra selbst (»Ort«, »Platz«, »Stelle«, »Region«,»Gegend«) oder das betreffend, was die Überlieferung die von Timaios selbst vorgeschlagenen (»Mutter«, »Amme«, »Behältnis«, »Abdruckträger«) Figuren – Vergleiche, Bilder, Metaphern  – nennt, die Übersetzungen blieben in den Interpretationsnetzen gefangen. Sie werden von den rückwärts gewandten Projektionen, deren Anachronismus jederzeit in Zweifel gezogen werden kann, induziert.

Was ist die Kunst, – was die Künstlerin? Die Performance, das Agieren, der Akt, das Sprechen, der Gegenstand, die Darstellung? Wer ist Subjekt, was Objekt? Wer und was wird die Kunst und die Künstlerin an einem Ort, der im Werden sich befindet (sich findet, – gerade und fortwährend sich erfindet), ohne sich an Kategorien und Identitäten zu klammern?

Chõra kommt zu uns, und zwar als der Name. Und wenn ein Name kommt, sagt er gleich mehr als der Name, sagt er das Andere des Namens und das Andere schlechthin, dessen hereinbrechen er rechtens verkündet. Ein Versprechen ist dieses Verkünden noch nicht, eine Drohung ist sie nicht mehr. Weder verspricht sie jemanden noch bedroht sie jemanden. Noch dem Jemand bleibt sie fremd, nennt allein das Bevorstehende, das dem Mythos, der Zeit und der Geschichte jedes Versprechens und aller möglichen Drohungen fremd ist.

Der Ort des Versuchs, der Raum, ist diesmal »Im_flieger@Schokoladenfabrik«. Ein Loft im 4. Stock einer alten Fabrik, die saniert wurde. Ein Ort, an dem Performances und Installationen, manchmal auch Ausstellungen stattfinden. Der Besitzer Manfred Flehner vermietet den Raum an Im_flieger. Der 3. Raum findet in einem Raum statt, der 4c genannt wird.

Gleich beim Hereinkommen am Eingang des Raumes ein Podest, beleuchtet von zwei Scheinwerfern. Ich definiere es nicht gleich als Podest. – Vielleicht, weil es nahe und in der selben Höhe wie das Sofa ist, kommt es mir eher vor wie eine Einladung zum ausgebreiteten Sitzen. Zum Rumliegen und am Bauch lümmelnd einander zu zuhören.

Eine Filmprojektion fällt auf eine Fensterscheibe auf der linken Seite des Raumes. Lichtspuren als Teil des Ortes. Reflexion und Transparenz. Reflektierend und durchscheinend. Licht geworfen von einem kleinen Holzturm auf dem ein Beamer befestigt ist, der auf das mittlere Fenster der einen Raumseite projiziert. Auf den Fensterscheiben bewegen sich durchsichtige Farbschemen. Auf dem Fensterrahmen nehmen sie manchmal Gestalt an. Weit, auf der gegenüberliegenden Straßenseite, auf der Hotelmauer erscheinen sie beinahe unsichtbar in überdimensionaler Größe.

Auf der rechten Seite des Raumes stehen Tische zusammengerückt zu einer weiteren großen (Tisch) Fläche. Auf ihr ist eine ca. 1 m breite Rolle Papier etwas ausgerollt. Es ist mit einem braunen Klebeband fixiert. Neben der Tischfläche steht ein kleiner Tisch. Bücher auf diesem Tisch. Und zwei geschlossene Fotoalben A5 Größe. Vereinzelnd sind Fotos in unterschiedlicher Größe mit einem Klebeband an verschiedenen Plätzen im Raum befestigt. Als eine Reihe auf einer Fensterscheibe, zum Beispiel. Ein weißes Klebeband läuft zu einem runden Stehtisch. Unter diesem Klebeband ist eine Nuss versteckt.

Warum versuche ich diesen Raum so genau zu beschreiben? Ich versuche seinen Eindruck, den Eindruck dieses Raumes, in dem etwas stattfand, – dieses Ereignis, das nicht der Raum ist und doch ohne diesen nicht stattfinden hätte können, – all diese Eindrücke, versuche ich nachzuzeichnen. Versuche sie auf meinem Gedächtnisfotopapier zu erhellen, mit Erinnerungslicht zu berühren, damit der Raum einmal mehr Gestalt annehmen kann. Damit er sich mir mit seinem diesmaligen Spezifikum nochmals zeigt. (Und mein Köper sich aus diesem T_Raum stülpt.) Mir diesen Raum, den 3. Raum, der tatsächlich auf 4c zu finden ist; in seiner 3. Dimension, (nicht 2 dimensional auf Papier, sondern als Raum) in seiner Glorious Weirdness of Art & Cosmic: LIVE, als 3. Raum nochmals zeigt. Nochmals in Erscheinung tritt. Re_flexionen. Seltsame Verschiebungen.

Um alle diese Konfusionen zu vermeiden, ist es – paradoxerweise – angebracht, dass eigene Herangehen zu formalisieren und bezüglich seinen Sujets stets diese Sprache beizubehalten. Nicht so sehr, ihr, »stets den selben Namen zu geben«, wie man oft übersetzt, sondern in der selben Weise von ihr zu sprechen und sie zu rufen / nennen.

In diesem Versuch, diesen Raum nachzuzeichnen erkenne ich, wie Jack Hausers minimale Verschiebungen der Alltagsgegenstände im Raum, die Objekte doch soweit entfremdet (verzaubert) haben, dass sie nicht mehr in ihrer Funktionalität von den Besucherinnen genutzt werden. Um den Tisch wurde herum gestanden, auf ihn gesessen zu später Stunde, aber nicht um ihn herum (nur im sicheren, respektvollen Abstand). Später in einem Kreis neben dem Tisch. Auch das Podest blieb unbesetzt. Gegenstände aus vertrauter Fremde. Reproduzierte Schemata, die neue Spuren hinterlassen. Kerben, Schnitzer, Eindrücke. Noch keine Gestalt, keine neue Funktionalität.

Am WC Spiegel ein anderes Foto von Jack Hauser, auf dem er mit einem Drumstick auf einem Fernsehbild Kreise zieht, auf dem er, auf einem Bild mit einem Drumstick Kreise zieht.

Dieser Bildmagie, diesem Bildabgrund ist Andreas Spiegl einmal gefolgt. Sie hat den Dialog geöffnet zwischen ihnen. Mise en abyme. Konstruiertes Element. Auf das Rätselhafte hinweisend. Den Abgrund, das Nicht-Wissen, dass sich eröffnet in der Begegnung mit einer Situation, die über konventionelle Abmachungen und Zeichen nicht mehr zu entschlüsseln ist. (Was ist das hier? Wer bin ich hier? Wer oder was ist das Andere, das nicht ich bin?) Dieser Abgrund, der ist, immer wieder, hat die beiden zusammen gebracht.

Andreas Spiegl schlägt Chõra als Denkmodell für den 3. Raum vor mit einer Empfehlung von einem Text von J. Derrida. Nicole Haitzinger wiederum nennt Chõra »das Hymen« Platons. Hymen - Jungfernhäutchen. Hymenaios, der Verkünder der Hochzeit. Einer Vereinigung. Chõra als Vereinigung mit dem was nicht fassbar ist, mit dem Unfassbaren?

Was könnte der 3. Raum versprechen, wenn wir ihm zuhören? Würden wir seine Versprechungen enträtseln? Seine makellose geometrische Grammatik, sein Stottern, seine Auslassungen, sein Umherschweifen, sein Zusammenziehen und seine Ausdehnungen? Dieser Raum. Diese Situation. Dieses Ereignis. Diese Verortung. Dieser soziale und architektonische Ort. Der 3. Raum, den wir »einmal – so – nennen« , weil wir ihn nicht benennen wollen. Wohl wissend, wie sehr die Begriffe helfen begreiflich zu machen, worum es geht, gehen wird, zu gehen hat. Begriffe sind Brenngläser, durch die bestimmte Phänomene besser in Erscheinung treten. Jack Hauser will nicht im Vorhinein wissen, nicht festlegen, was dieser 3. Raum ist, sein kann. Will nicht wissen, was und wie etwas stattfinden kann. In der Anstrengung seines Nichtwissens gibt er den Raum und alle Beteiligten einer Ungewissheit anheim. (Heimatlos, wissen wir nur noch wer wir waren, nicht was wir sein werden. Heimatlos erinnern wir uns was wir getan und geschaffen haben, wissen aber nicht, ob wir es diesmal wieder schaffen werden, zu tun, was wir tun wollen. Vom Begehren an der Hand genommen werden, zum Beispiel. Ob wir Teilhaben können auf die Art und Weise, wir wir es uns wünschen. Teil sein. Wir wissen nicht was die Zukunft zu uns bringt und ob wir sie in einer Form ergreifen können, überhaupt. Mit ihr in Berührung kommen können, dürfen. Sie erschaffen. Von ihr erschaffen werden. Werden wir es schaffen?) Und diese Ungewissheit, in diesem doch so sicheren Rahmen und trotz der augenzwinkernden, freundschaftlichen Einladung, erzeugt eine anhaltende Spannung von Möglichkeiten, von Entscheidungen, von Setzungen, von Enthaltungen, von Rändern, von Randfiguren, von Auslösern, von Betrachtungen, Agentinnen, Hörenden, Sprechenden, von Scharren und Murmeln. Von Gedankenblitzen.

Aber vor allem dem war noch die Einladung den Film zu schauen: »The Last Movie« von Dennis Hopper. Und der Rollo wurde hinunter gezogen, damit das Licht auf eine Oberfläche fallen kann und nun in aller Deutlichkeit zeigt, was es zu erzählen hat, von 1971.

Und vor dem, war da noch die Begrüßung. Jack Hauser erzählt und fragt: »Die Liebe kennt keinen Weg. Die Liebe ist weglos. Der erste Tag ist wie der letzte Tag. Dass sich die Welt in 24 Stunden um ihre eigene Achse dreht, ist nach wie vor eine bemerkenswerte Situation. Gegeben sei: 4 Stunden Raumdrehung passiert mit uns, sogar.
Das ganze Werk lebt vom Wunsch, sich ins Unbekannte zu wagen. Das ganze Werk lebt vom Wunsch, die Performance unbestimmt zu lassen. Wie wir wissen: es kommen ganz schnell bekannte Ideen, Formate, Begriffe um die Performance zu verstehen. Ich möchte euch darin bestärken, sich auf einen Riss, eine Verwerfungslinie einzustellen.«
Jack Hauser erzählt und fragt. Von Begegnungen. Mit dem was Performance ist. Etwas geschieht. Wir sind dabei. Wir lesen. Wir können es nicht immer verstehen. Trotzdem lesen wir. Werden berührt. Treten in Beziehung. Verstehen nicht immer. Das was wir Performance nennen. ...

Und dann ein Lied, gespielt von Anton Tichawa, gesungen von mir, Sabina Holzer. »Spaces between Spaces« . Später wird es im Film gezeigt und gesungen werden. Vorab schon begrüßt und angekündigt, und danach nochmals LIVE gesungen, von den beiden. Eine situative Mise en abyme. Vorangehend, nachkommend, abgründig. Was war vorher und was war nachher? Wann hat dieser Abend, dieses Werk begonnen? Für jede Person an einem anderen Zeitpunkt, einen anderen Ort.

Wann beginnt eine künstlerische Praxis, eine Performance, ein Werk. Wann und wodurch bereitet sich etwas vor, um in Erscheinung zu treten? In Erscheinung treten zu können? Wann hört es auf? Und: wäre es nicht eine fantastische Übung, diese Ordnung des Anfangens und Aufhörens mal außer acht zu lassen? Was tritt dann in Erscheinung?

Mag das Wort auch bereits gefallen sein (19a), so ist doch die Frage von chõra als allgemeiner Ort oder totalem Behältnis (pandechēs) damit gewiss noch nicht gestellt, zeichnet sich bereits ab und tritt hervor. Der Vermerk liegt vor / die Note ist erteilt / der Ton ist angegeben (la note est donne.) Denn einerseits gestattet und beinhaltet die geordnete Polysemie des Wortes stets den Sinn von politischen Ort oder allgemeiner gesprochen - besetzter / belehnter / ausgestatteter Ort (lieu investi) im Gegensatz zum abstrakten Raum. »Chõra heißt«: von jemanden eingenommener Platz, Rand, Posten, zugewiesene Position, Territorium oder Region. Und in der Tat ist chõra stets bereits eingenommen, besetzt, belehnt, ausgestattet, sogar als allgemeiner Ort und obgleich sie sich von allen unterscheidet, was Platz nimmt in ihr. Daher die Schwierigkeit – zu der wir noch kommen werden, – sie als leeren oder geometrischen Raum zu behandeln, ….

Jede/r Besucher/in, entweder eingeweiht, in Freundschaft oder sich von der Neugierde leitend, was hier wohl stattfinden wird, besetzt den Raum auf seine / ihre eigene Art. Die Erwartung übersetzt sich als Performance, in: wie – werde – ich – mich – verhalten? Was ist meine Haltung? Kann ich sie loslassen? (Werden, ja sagen.) Und was wird dann geschehen? Wird mich meine makellose figurative Grammatik zum Stottern bringen? Wird überhaupt jemand zuhören. Wird mich jedes Wort zum Erröten bringen. Jedes Agieren mich scheinbar selbst verschlucken. Besetzung des Raumes durch eine vage vergangene Erwartung. Wo aber sind wir jetzt? (In welcher Welt wollen wir leben?) Das Wagnis eingehen.

Subjekte wie Objekte in unmerklicher Verschiebung aus dem Alltag verrückt. »Seid mit Eurer Kleidung verwickelt« stand in der Einladung. Es ist unsicher, wer dieser Einladung gefolgt ist. Anita Kaya, in dem Anzug ihres Vaters, der an Jason King erinnert; Alfred Lenz in seinem Steirerjackett und seine Freundin in einem Kleid, das irgendwie speziell ist, – sie hat es schon lange, gibt sich aber heute das erste Mal in diesem Kleid. Mit einer Freundin, die wiederum einen Pullover, trägt der… Individuelle Geschichten, die plötzlich aufscheinen und Welten eröffnen, als ob man die Produktionsbedingungen von Kleidung nachgeht. Produktionsbedingungen von Figuren. Stefanie Frauwallner in weißem Jackett und schwarzem Kleid, mit Brille, die der Bruder vergessen hat. Die dann plötzlich das Double der Fernsehsprecherin wird, die »The Last Movie« von Dennis Hopper ankündigt. Während Thomas Ballhausen eine kurze Einleitung zum Film gibt, wird Frauwallner plötzlich Synchronübersetzerin in Gebärdensprache. Sie führt den ganzen Abend solche kleinen Narreteien aus. Unauffällig, unaufdringlich. Leichtsinnige Überschreitungen. Jack Hauser gekleidet mit Kostümen aus verschiedenen Performances. Ich mit meinem Jäckchen von den Unbändigen. Die Wünschelrutengängerin. Anton Tichawa als Living Music Box, in dem dazu gehörigen karierten Holzfällerhemd. Den ganzen Abend singt er mit seiner Gitarre Lieder. Oft wird er von seinem Sohn begleitet. Das Lied von David Bowie. Heros just for one day in verschiedenen Sprachen. Unauffällige Verflechtungen.

Kein Verhalten kann keiner Konvention zugeordnet werden. Jede Person entscheidet selbst, wann und wie sie (performativ) in Erscheinung tritt. Wann sie eine/n Andere/n, eine Situation, ein Objekt (performativ) wahrnimmt. Gibt sich auf eine bestimmte Art. Diese „etwas Geben", „sich geben", als Gabe von der man/ frau nicht weiss, ob sie gewollt oder angenommen wird, – bedingungslos – ist die Spannung und das Risiko dieses 3. Raumes in 4c. Die soziale Konvention ist. (Sehr stark. Kaum wegzudenken.) Beteilige ich mich nicht an dieser Konvention, verhalte ich mich anders, lenke ich die Wahrnehmung um, werde ich zur Anderen. In dieser Situation, an diesem Ort. Werde ich e i g e n a r t i g. Eigenartiges ineinander übergehen des Sprechens, Handelns und Singens.

Leben geben; sehen wie einer graphē Leben und Bewegung gegeben wird, sehen wie eine Zoographie – mit anderen Worten: eine bildliche Vorstellung, die tote Beschreibungen oder Einschreibungen des Lebendigen – zum Leben erweckt wird. Dieser Wunsch ist auch ein politischer. Wie soll man die Vorstellung des Politischen zum Leben erwecken?

Überhaupt ist dieser Abend voll mit Sprechen. Ausgestellter Sprache sogar. Die zu den Rändern der Sprache führt. Will diese Grenze erreichen. Gesten. Handlungen. Stille. Versammlungen. (Von Menschen. Von Dingen.) Sprechen, das aber dann doch nicht, – so halblässig wie wir da herum standen und zuhörten, – Ansprache ist. Gesetzt, aber nicht Gesetz. Eindrückliche Flüchtigkeit, die dann doch immer wieder aufgegriffen werden möchte. Eigenartig undurchsichtig, anregend. Wie ein Gedicht.

Chõra, eingebracht, erwähnt, so weit vorgedrungen, mich durchdrungen, dass ich das Buch jetzt lese. (Eine Empfehlung.) Der unbestimmte Raum, der unbestimmte Ort, als Ort, an dem etwas stattfindet, ohne architektonische Grenze. Stattfinden, konstituieren, wirksam sein ohne sich zu konstituieren. Ohne zum Recht und Gesetz zu werden. Zur Konvention. Fremd bleiben also. Ausgesetzt. Glorious Weirdness of Art & Cosmic: LIVE.

To be continued.