Ein unbelegter Mythos

Do., 12. Oktober 2017

Weitere Annäherung an die Schrift

Körpereinsatz. Geist nicht getrennt. Der Körper begrenzt. Der Geist nicht. Geist beschränkt. Den schrankenlosen Abgrund kennt Körper und Geist. Immer die Angst vor dem Fallen. Wo doch das Fallen eine der wesentlichen Grundbedingungen der Fortbewegung ist. Fallen und Landen. Und dann das Abprallen, Abfedern, Hochfedern, Hüpfen. 

Was ist die Grenze der Schrift? Die Grenze der Sprache? Jetzt wo wir alle in Maschinen schreiben, mit Maschinen schreiben. Und so von Maschinen geschrieben werden. Um auch das zu erwähnen. 

Der Umgang mit den digitalen Medien. Die Öffnung und Vernetzung in multidimensionale Möglichkeiten. Eigentlich der Raum, der sich da vor mir entfaltet, auf dem 2 dimensionalen Bildschirm. Eigentlich ein Raum, den ich wahrnehme, hauptsächlich mit meinen Augen. Der restliche Körper ist an ein anderes Medium gebunden. An den aktuellen Raum, in dem ich sitze und den ich mit Hilfe meiner Sensorik einschätze. Dessen Grenzen ich abtaste. Dessen Wände mich informieren. Hier sitzend. Alles, was ich wahrnehme. Wo ich nicht sehe. Augenblicke. Hautzwinkern. Dieser Raum. Ausweitung des Körpers. Wahrgenommen, definiert, realisiert mit meinen Sinnen. Als Spinne würde ich diesen Raum sehr anders wahrnehmen. Dieses "Ich", das ich bin - Wesen welcher Art? 

Zeichen, Wörter und ihre Bedeutungen fliegen durchs Netz.

Ich halte mich an den Buchstaben fest. Den Stäben. Diesen eigenartigen Linien und Kurven. Diesen Punkten, Strichen und Zwischenräume.

Einmal, da konnte ich den Stift festhalten, und so lernen zu begreifen, was diese Zeichen sind, die ich vor mich hin male. Während ich male, ziehen sich die Bahnen in meinem Gehirn. Die Doppeldeutigkeit des Schreibens, die immer versucht die Situation zu negieren in der geschrieben wird. Manchmal jedoch gibt es kein Entkommen. Da ist die Aufregung zu groß. Die Hände werden schwitzig. Der Nachdruck der Bedeutungsschaffung zu groß. Der Stift bricht. Der Geist ist zu schnell und ein Buchstabe rutscht hinweg, hüpft hierhin und dorthin. Die Buchstaben tanzen und wollen nicht still bleiben. Genauso wie ich nicht still sitzen will. Durchströmt von Regungen, Bedeutungen und Verknüpfungen. 

Schreiben ist wie träumen. Der Körper ist still und der Geist erlebt allerlei. 

Und am liebsten richtet sich der Schreibtisch weg vom Raum, zum Fenster. Will in die Welt schauen, seine Welt spinnen. Mit dem Gewebe in Berührung kommen. 

Schrift von der Sprache aus denken? Schrift als Nachfolge von Rede. Schreiben als Dialog mit sich selbst. Meinen Selbstgesprächen auf die Spur zu kommen. Diesen Träumen. Diesen Visionen von Welt. Von Umgebung. Von Raum zwischen Dir und mir. Diese Form in der ich mir begegne, Dir begegne, mich versuche, mich suche, dich suche. Mit alle dem in Berührung kommen. Schreiben. 

Der Ursprung der Schrift ist, wie es sich gebührt, Gegenstand mythischer Diskurse gewesen, wie Roland Barthes sagt. Es waren Götter oder Helden, die sie den Menschen gebracht haben: Thot, Kadmos, Palamedes, Simonides von Keos, der Engel Raziel. Lauter männliche Namen. Gibt es keine Frauen, die uns die Schrift gebracht hat? Was ist mit Arachne, die Weberin. Das Zusammenführen all der Linien und Bögen zu einem Gewebe, einer Textur. 

Wäre das ein Beginn eines Textes, der über sich hinaus weist, der größer wird als ich, als das, was ich verstehe? Der mich führt in Gebiete, die ich anders denke, die ich nicht hätte denken können.
Kann ich nur das erleben, wahrnehmen, was ich denken kann? Und hier, spätestens hier, fließt es wieder zusammen, das Sensorische und das, was das Denken nährt oder unterfüttert oder parallel fungiert. Wie fragt Katharina Malabou: was ist das "neurologische" und das "kognitive"? Die Muster. Die Übersetzungen und Spuren.
Um die Verbindung des "Neuronalen" und "Kulturellen" geht es.(Geistig vorgestellt, weil vorgestellt. Ein Gestell vor sich hingestellt. Annehmend wo vorne und hinten ist für diesen Augenblick zumindest. Glücklicher Weise gibt es die Gravitation als Orientierung. Gibt es nur eine Linse im Körper. Viele Kuppeln und Membrane. Viele verschiedene Öffnungen. Millionen, wenn wir die Hautporen dazu zählen, die das Licht durchlassen.) 

Von Licht durchströmt sind und existieren doch in der Dunkelheit.

Nachgehen, aufsuchen, Gedächtnis.

Und schon weiter gelesen, nicht still gestanden: Über einen anderen Mythus des Ursprungs, nämlich, dass die Anschrift / Asche / Schrift aus der Gebärdensprache kommt. Die gestische Sprache war bereits konventionell, man fand sie in Ideo- und Piktogrammen, das was außersprachlich bereits Code war: die soziale Geste). Erst später entstand unsere artikulierte fasziale Sprache, zunächst in der Gestalt der "Clics". Die "Clics" sind jene besonderen Phoneme, die man in den südafrikanischen und kaukasischen Sprachen begegnet und die den Schmatzlauten der Kinder analog sind, wenn sie saugen. Durch die Zerstückelung dieser "Clics", in Gestalt von Konsonanten Gruppen (die Vokale waren zunächst nur eine Art von neutralen, stimmlosen Tupfern) der Aufstieg des Vokals in der Sprache und das Auftauchen der Schrift vollzogen sich in der Entwicklung der Gesten und der Clics. Anders ausgedrückt: die Schrift wäre somit der mündlichen Sprache voraus gegangen. 

Das ist ein unbelegter Mythus. Er gefällt mir und führt mich neben der Liebe des Abschreiben und Weiterschreiben zu der Erinnerung, die ich erzähle. Die ich gestern in dem Gespräch über die Materialität der Schrift plötzlich aufgestiegen ist. Nebenbei bemerkt, wie sehr Sprache Realität erzeugt ist gerade im Moment durch die neuen Medien so sehr bemerkbar. Was für eine Welt da evoziert wird. Wie sehr die Gegebenheiten durch ihre Beschreibung verdreht, überschrieben, neu instruiert werden. Und wieder die Frage, in was für einer Welt wollen wir leben? Was informiert unseren Umgang?

Woran Festhalten? Die Frage hat mich gestern schon berührt. Festgehalten habe ich mich am Stift. Dieser Stift in der Faust. Bewegung des Handgelenks, dass seine Analogie im Fußgelenk hat. 
Die Ähnlichkeit des Fußes mit der Hand, die "Fußstapfen der Hand". Meine Mutter, die immer Stift und Papier mitgehabt hat, damit ich beschäftigt bin. Suche ich diese Zone des Vor-mich-hinkritzeln, der Übertragung von Stimmungen, die durch meine kleinen Körper fließen. Ich weiß nicht mehr, wann ich lesen gelernt habe. Es war erstaunlich zeitlich, daran kann ich mich erinnern. An das Erstaunen, das ich schon lesen kann. Wann formt sich die Hand und kann begreifen?

Gehirn: Faltungen, Felder, Schichtungen.

Schreibgeste 1: Mittelfinger und Ringfinger der rechten Hand neben das innere Ende der Augenbrauen zu legen und dort in diesen Höckern in Kopf ein wenig stützen, ein wenig nach oben ziehen. 

Die Frage des Ansprechen, Adressieren, Anschreiben. Des Berührtwerden und Antworten in einer Verantwortung. Bitte keine Gewalt. Das ist die Materialität meiner Schrift. Bitte keine Gewalt. Das ist meine Verantwortung.

Schreibgeste 2: Arme über den Kopf heben und Handflächen hineinfandet verschränken. 

Nachdenken: wie ist das mit der Drehung. Was ist eine Schrift, die einem den Rücken zu kehrt, 
Sich zur Seite biegt, am Kopf steht? Sich ausbreitet und zusammenzieht? Herum rollt, eine Spirale voll zieht? Sind die graphischen Zeichen verbunden mit den ersten Bewegungsmuster? Wie die "Clics" und das saugen? 

Stets muss ich der Sprache die folgende Frage stellen: wie zerlegt sich die Realität? Was ist es, was sie aus dieser Realität ausschneidet. Es ist das, was man Mapping nennt, die geographische Karte mit der die Sprache die Erdoberfläche der Realien zu prägen versucht. Die Schrift zerlegt auf andere Weise.

Schrift als Erinnerungswerkzeug. Als Prothese des Gehirns. Des Körpers? Schrift als Feld der unendlichen Bedeutung. Die Schrift bewegt sich zwischen dem Kompakten und dem Aufgelockerten, der Bindenaht und der Bruchkante.

Schreibgeste 3: pulsierende Fäuste

Die 7 Vokale sind mit den 7 Planeten verbunden worden - mit den 7 Chakren). Ich kenne nur 5 Vokale. 

Schreibgeste 4: gestreckten Mittel und Zeigefinger an die Lippen geführt und dort innegehalten. (Lesegeste)

Wer Macht sagt, sagt auch Gegenmacht. 

In den summarischen Gesellschaften gehörten die Schreiber zu der reichsten Klasse, aus denen Frauen ausgeschlossen waren. Aber ist es nicht das Weben des Gewandes, dass der Wirklichkeit und ihren Spuren viel näher kommt? 

Es geht um Übergänge. Die Übergänge zwischen Mensch und Umgebung, zwischen Mensch und Nicht-Mensch, zwischen Mensch und Maschine.
Die Übergänge zwischen einer Bewegung und einer Setzung. Den Übergang von mir zur Welt. Von mir zum anderen. In Verbindung treten. Was für ein luxuriöser Gedanke. Oder besser die Verbindung wahrnehmen. Um dann doch wieder sich der Welt zu öffnen.

Wieder gefundene Notizen aus der Stoffwechsel Werkstatt 2016