Zur Resilienz des Modernismus

Mi., 22. Juni 2016

phenomenologisch-prosaische Beschreibung meiner Forschungsfrage(n)

Als ich mich vom Gare de Montparnasse aus zurück ins Stadtgeschehen warf, wurde ich an ein paralleles Erlebnis am Franz-Josef-Bahnhof zurückversetzt - als ich von meiner letzten Landflucht ins Urbane zurückfiel. Der Übergang vom Land in die Stadt ist immer mit einem Schockzustand verbunden. Die gigantische Reizüberflutung knüppelt einen nieder. Das Auge muss tausend Reizen in der Sekunde folgen und beginnt sich bald von der vielen Bewegung zu überhitzen - das Augenwasser kommt seiner Kühlfunktion nicht nach. So viele schöne Menschen, so viele Leuchtreklamen, so viel Verkehr, soviel Lärm, soviel Leute, sowenig Himmel. Am Land öffnen sich die Organe zu einer größeren Sinnlichkeit - man kann die Welt in einer Art Harmonie einatmen, man findet Ruhe & Frieden - fühlt sich frei und verbunden. Die Sinne betasten die Welt. Wie aus einem Schneckenhaus wagen sie sich vorsichtig wieder heraus, betasten mit ihren zarten Tentakeln die Welt und finden - vorsichtig - Halt in ihr. In der Stadt brüllt das Zuviel die Sinne nieder, sie müssen sich zurückziehen, ducken, da die Welt auf sie einschreit. Sie können nicht frei & nach belieben die Welt auskosten, sie müssen sich zu einer Bastion zusammenkuscheln, die man oftmals Subjekt nennt. Um Ökonomie zu betreiben mit den Reizen, die auf sie von allen Seiten einstürmen, muss sich die freie Assoziationsgemeinschaft der Sinne zu einem Panzertier bündeln, dessen Panzer sich aus mehr als Kretin, Knochen oder Hornhaut zusammensetzt. Eine Leuchtreklame, die mit im Diesseits nicht nachzuahmenden Schönheiten ein unwiderstehliches Parfüm bewirbt, ein Tumult von kreuz und quer laufenden Personen, die diesen Ideen von Schönheit verwirrend nahe kommen, ein Zeitungsstand, an dem Bündel fetter Letter diese Weltneuheit oder jenen Weltskandal beheulen, eine Auslage, in der die neueste Elektronik hypnotische Lichterketten mimen, ein zwei drei Bettelnde, die mit ehrlicher oder gespielter Betroffenheit an die Nächstenliebe appellieren, ein Vierter, der reglos am Boden liegt, das Klappern von Absätzen, das den schnellsten Weg durch das ständig sich bewegende Labyrinth erpresst, ohne die Augen vom Smartphone zu nehmen, das Rauschen von tausend Stimmen, die hier oder sonst wo auf der Welt ein ernstes, liebendes, streitendes, zärtliches, erziehendes, ermahnendes oder bestärkendes oder vernichtendes Gespräch führen, dahinter das Donnern des Verkehrs, der Züge, der Flugzeuge, der Geruch von Essenständen, Hundescheiße, Düften, Abgasen und Blut - man kann nicht auf sie alle eingehen, geschweige denn, sie frei suchen. Die Sinne müssen Disziplin erfahren und nur auf gewählte Eindrücke eingehen: das Auge bleibt starr auf den Weg gerichtet, der Ablenkung resistierend; das Ohr faltet sich zu einer gewissen Taubheit zusammen, um nur mehr bestimmte Signale - menschliche Stimmen, Hupen - aus dem Verkehrslärm zu filtern; die Nase bleibt am besten gänzlich verschlossen; die Zunge betäubt sich an einem Kaugummi oder übersalzten Kebap; der Tastsinn wird gänzlich stumpf. Die Sinne können in der Welt der Überreizung, die sich der Mensch proportional entlang dem eigens so genannten Fortschritt angelegt hat, nicht frei umher tollen und müssen sich einer Führung unterwerfen - der Ruf nach einer/m starken Führer_in wird laut und jene_r strukturiert den losen Interessensverband Mensch in einem strikten und totalitären Kastensystem. An dessen Spitze stellt sie oder er sich selber: der Wille, die Rationalität, der unhinterfragte Sonnenkönig. Gesichert und bestärkt wird er von seinem treuesten Vasallen, dem Sehsinn - durch seine Bilder und Räumlichkeitskonzepte bewegt sich der Geist - auf ihnen hat er seine befestigten Autobahnen errichtet. Weiter unten - schon viel niedriger - findet sich das Ohr, das den Stand eines niederen Gesellens oder Wachmanns einnimmt - ihm obliegt der Aufschrei vor der Gefahr ab und zu, der Rundumblick aus dem Wachturm, das seltene Hinzuliefern von Informationen, die er möglichst unverändert aus einem von der Obrigkeit bestimmten Bereich fördern soll. In der untersten Kaste - den Unantastbaren - verweilt, untereinander leicht abgestuft & sich gegenseitig drangsalierend, der Geruchs-, Geschmacks- und Tastsinn. Die Stadt - oder die Überreizung - produziert das geschlossene Subjekt, eine Rationalität, die auf strenge Beherrschung der Sinne setzen muss, anstatt freier und produktiver Kooperation. Am Gare de Montparnasse oder am Franz-Josef-Bahnhof, an der Penn Station, der Estación Puerta de Atocha und dem Athener Σιδηροδρομικός Σταθμός Αθήνας - aber lustigerweise nicht am Berliner Hauptbahnhof - erdrückt einem die Stadt in einem Zug. Immer sind meine Heimwege von den jeweiligen Bahnhöfen bedrückte, verzweifelte, suchende. Verlustangst kommt auf - schmerzvolles Abhandenkommen der friedvollen Koexistenz meiner verschiedenen Triebe, Morgenröte der monistischen Notwendigkeitsherrschaft des Leviathan - des Triebvertrags, geschlossen, um den Kampf aller gegen alle zu verhindern. Insoferne ist es auch interessant, dass viele unserer modernen Entspannungsformen nicht mehr auf die Ent-, sondern auf die Überreizung abzielen. Im Club, am Rummelplatz, im Drogenrausch findet man seine Ruhe nicht in Übereinstimmung mit den äußeren - ebenfalls ruhigen - Umständen. Man erlebt sie als eine Art Trance oder Taumel, in den sich das Gehirn aus Rückzugsmotiven begibt. Man tanzt im Club zu hektischen und oftmals atypischen Tonfragmenten, lässt sich von Lasern, Rauch und dem aufreizenden Blickkontakt mit aufblitzenden Menschen in eine majestätische Gelassenheit tragen, in der der animierte & synchronisierte Körper zu einem ruhenden Auge wird, das einfach nur mehr schaut. Je mehr man sich auf diese tobende Höhle einlässt, desto mehr wagen sich die Sinne wieder zu öffnen - man atmet das himmlische Parfüm dieser Schönheit im Vorbeiziehen ein, spürt die zarte und leicht nasse Haut jener im nahen Tanz und schmeckt im Glücksfall noch die eine oder andere  Lippe, die sich gefühlsvoll mit der eigenen vereint, während die Atmosphäre wie ein Wirbelsturm brüllt, in dessen Windhose man die Sinnlichkeit wiederfindet. Die Laser rummsen bis in den Morgen - doch irgendwann stimuliert einem die Bassdrum nicht mehr - man hat mit ihrer Hilfe unter ihr Niveau abgebremst, steht immer benommener auf der Tanzfläche, begnügt sich mehr und mehr mit der Rolle des reinen Auges, wird immer mehr an den Rand geschwemmt, zieht im Glücksfall noch die Hand eines oder einer ebenfalls zu genüge Beruhigten aus dem Strom, taumelt mit ihr oder ihm zur Garderobe, im vulgären Fall aufs Klo. 
Dort kann man mit der richtigen chemischen Mischung das Niveau nochmals auf das der Bassdrum zurück adjustieren, doch irgendwann verliert auch das beste Zauberpülverchen seinen Effekt und man wird sich früher oder später im Draußen wiederfinden, im Vor-dem-Club. Die Luft ist hier kalt und die Stadt erscheint einem so ruhig wie ungekannt. Das Wummern der Bassdrum setzt sich noch sanft durch die Wände durch, bildet ein Outro zum sonst zu harten Übergang, aber sonst hört man kaum einen Laut in der nächtlichen Stadt und auch ungewohnt wenig Schatten huschen durch die Straßen. Das Ohr ist noch dumpf, der Tastsinn stumpf, die Augen dunkel. 
Die Luft ehrt seinen Atem mit rollenden Dampf, den man mit der geteilten Zigarette von sich aus bestärkt. Man tauscht Nummern aus, geht miteinander heim oder lässt es bleiben - es ist alles herrlich gleichgültig in diesem Kokonstatus der Sinne, durch diese Abbremsung durch ein maximales Durchstarten. 
Man wankt entspannt nach Hause, beschaut mit ruhigen Auge das Erwachen dieser Stadt, an dem man nun definitv nicht Teil hat. Die frühesten Schichten klettern schon aus ihren Höhlen und Kanaldeckeln und wuseln über den urbanen Raum, den die Sonne noch nicht berührt hat. Sie waschen den Bürgersteig, fahren den Nachtbus, reparieren die Straßen und Schienen - ein Bouquet schillernder Funken sprüht von diesem Schweißgerät und ich werte es als abschließendes Feuerwerk für einen gelungenen Abend. Ich entleere mein Geldbörsel in den Hut einer/s schlafenden Obdachlosen und bin beruhigt, die Stadt nur schauen zu müssen. Denn man ist kein Teil des Treibens, man spaziert wie durch ein Aquarium, dessen Glaswände die Sinneseindrücke abstumpfen wie die Überreizung des Clubs und schläft irgendwann ein auf seinem Bett oder das eines anderen, um sich am nächsten Tag, oder am übernächsten Tag wieder einer geregelten Reintegration zu widmen. 
Dann spielt man das Spiel wieder mit, führt seinen Tanz auf in der Windhose des reizenden Tornados, filtert, sammelt, konstituiert und schotet sich ab. Wird mehr und mehr zu einer Verdichtung, einem knallharten Subjekt, das die Welt nicht mehr einlässt, sondern sie nach seinem Kommando dirigiert. Die Haut ist dann dicht genug, für die äußeren Bereiche des Tornados, man betritt, wie Feindesland, die Welt der Überreizung und versucht in ihr seinen Willen zu leben. Doch irgendwann verbläst es auch den stärksten Leviathan und die dichte Haut der strengen Sinnesführung blättert zunehmend ab, weist Risse auf und führt früher oder später zum Zusammensacken im Burnout. Dann trete ich wieder die Fluchtbewegung an. In den Club, den Rausch, oder zur umgekehrten Bewegung auf einem Bahnhof, sei es der Montparnasse, der Franz-Josef, oder sonst irgendwer. Zurück in die Windhose, irgendwie. 

 

Kilian Jörg
 

In der 'Resilienz des Modernismus' versuche ich Strukturen zu erforschen, die uns modern sein lassen, obwohl wir eigentlich längst eingesehen haben, dass wir nicht mehr modern sein sollten (oder gar nie modern gewesen sind). Ich versuche mir damit - unter Anderem - unsere gesamtgesellschaftliche Trägheit gegenüber alten, obsolet gewordenen Ordnungsstrukturen und den damit verbundenen sozialen und kulturellen Backlash unserer Zeit zu erklären.