Textfragmente zur Neuen Vorsicht

So., 25. Juli 2021
22:09 Uhr

von Michael Hirsch

Neue Vorsicht? (On Touch #2)

1.) Ein Paradigmenwechsel in der Praktischen Philosophie:
„Ein zweites Leben“?

Vielleicht gibt es immer wieder, und heute mehr denn je, ein langsames, unscheinbares Hinübergleiten, einen Übergang von einer „Moral der Vorschrift – jener der Vernunftregeln, der Verhaltensimperative oder des Dogmas – zu einer Ethik der Förderung“.
(François Jullien, Ein zweites Leben, Wien 2020, S. 12)

Das würde dann andere Formen des Denkens, Sprechens und Handelns erfordern – ein ganz anderes, ungleich aufmerksameres Misstrauen gegenüber der Macht der öffentlichen Diskurse, der Meinungen und der Urteile (auch unseren eigenen!). Eben eine Neue Vorsicht.

 

2.) Neue Vorsicht – Neue Feinheit: Nach einem möglichen Ende der Pandemie und ihrer rigiden staatlichen Kontaktbeschränkungen brauchen wir vielleicht ganz neue Lehren, und neue Techniken des Umgangs miteinander. Wir brauchen neue Praktiken von Geschmack und Takt:

Neue Gewohnheiten der (physischen, sozialen und mentalen) Nähe und der Distanz, von Berührung und Abstand. Alle Formen der Affizierung, der Reize im Kontext sozialer Begegnungen können noch einmal neu überprüft, neu ausprobiert, neu einstudiert, neu eingeübt werden. Die uns bevorstehende Aufgabe ist dabei ebenso eine der Erkenntnis und Theorie, wie eine der Praxis und alltäglichen Übung sowie der sozialen Vereinbarung.

 

3.) Neue Vorsicht – Eine ökologisch-ästhetische Lehre des Geschmacks: der zuträglichen Berührungen und Affekte

„Lerne zu wählen, lerne auszuwählen und zu unterscheiden: Welche Reize sind mir und meinem körperlichen wie mentalen Organismus förderlich (und welche nicht) – und machen mich selbst auf diese Weise vielleicht zu einem anderen Menschen förderlichen (leuchtenden) Beispiel?“

Alles kommt darauf an, auszuwählen, die möglichen Reize, Begegnungen, Berührungen, Anregungen und Informationen zu filtern. Die wichtigste Frage dabei ist vielleicht die: Was man alles weglassen muss, was man alles nicht an sich herankommen lässt, um körperlich wie mental gesund zu bleiben oder zu werden.
Dahinter steht eine ganze Lehre, und eine ganze Übungspraxis der Hygiene. Geschmack: Eine neue Theorie der Auswahl


 

4.) „Zweite Aufklärung“: Wage!

Die Erste Aufklärung lag noch primär in dem Mut, sich seines eigenen Verstandes ohne die Anleitung eines oder einer anderen zu bedienen. Beziehungsweise darin, einen solchen unabhängigen Verstand überhaupt zu entwickeln und zu üben. Die Zweite Aufklärung liegt zusätzlich (nicht im Gegensatz dazu!) primär in dem Mut, sich seiner eigenen Phantasie und sinnlich-geistigen Fähigkeit der Affizierung zu bedienen. Beziehungsweise ein solches sinnlich-ästhetisches Vermögen überhaupt zu entwickeln und zu üben.

Erste und Zweite Aufklärung stehen nicht in einem Gegensatz. Nur die Macht der philosophischen Diskurse und Doktrinen erzeugt immer wieder diesen Gegensatz zwischen einer eher normativen und ‚rationalistischen’ Lehre der Aufklärung hier, einer eher ethischen, sinnlich-ästhetischen Lehre der Wahrnehmung dort. In Wirklichkeit geht es immer um die Fähigkeit, beide Vermögen zugleich zu üben: den öffentlichen Vernunftgebrauch („das Allgemeine“: die Subjekte als Dritte Personen) zum einen – das je persönliche ethisch-ästhetische Vermögen („das Besondere“: die Subjekte als Erste Personen) zum anderen.

Wage, dich affizieren, dich berühren zu lassen, wage zu spüren und zu schmecken. „Man muss wagen, berührt zu werden.“ „Setze dich dem Risiko aus, berührt zu werden! (Isabelle Stengers, Réactiver le sens commun, 2020, S. 169)“
„Wagen“: „Das bedeutet nicht mehr den schmeichelhaften Heroismus einer Gegnerschaft oder einer Emanzipation der Vernunft, die sich vom Joch der Bevormundung durch beruhigende oder verführerische Illusionen befreit“ (170).

Es heißt eher: Vertrauen, lernen, sich affizieren und berühren zu lassen.
Aber wie sehr, und wie weit, bis wo hin?

Zur Beantwortung dieser Frage gibt es keine allgemeinen Regeln. Man muss die „Neue Vorsicht“ lernen:
„Wage also, aber um die Gefahr wissend.“ (170)

Lerne, auszuwählen, zurückzuweisen: „Rejette, mais sur le mode du ‚pas ça, pas ici, pas maintenant’, et pas sur celui du jugement.“ (170)


 

5.) Neue Vorsicht – Weiter Abstand halten?

Bald dürfen wir wieder drängeln
Die Menschen freuen sich auf Biergarten und Kino, es wird Zeit, die Distanzkultur zu verabschieden. Seufz

„War es, andererseits, nicht auch ganz schön und zukunftstauglich, wenn man in der Schlange an der Supermarktkasse respektvoll den Abstand wahrt? Könnte man das kleine höfliche Ausweichmanöver auf dem Bürgersteig nicht zum immateriellen Weltkulturerbe erklären? Ist das Bemühen im Baumarkt, anderen nicht in die Quere zu kommen, nicht auch eine Übung, die man beibehalten könnte? Beim Friseur ist jeder zweite Platz mit rotweißem Absperrband verklebt: Wie wäre es, wenn man in Zukunft einfach etwas mehr Abstand lässt zwischen den Spülbecken, Crosstrainern, Supermarktkassen, Buchregalen und Bahnsitzreihen?“
(Süddeutsche Zeitung 17. Mai 2021)

 

6.) Kaffeehaus- und Kneipengesellschaften/-Gemeinschaften: Physische und mentale, körperliche, visuelle und akustische Gemeinschaft/Geselligkeit. Über den Wert von Takt als zivilisatorische Errungenschaft
(„Vieles nicht sehen, nicht hören!“)

Wir brauchen zugleich alte und neue Gewohnheiten des Abstands. Das sind zugleich räumlich-visuelle, und akustische Formen der Distanz und des Takts. Die Einzelnen und 2er- oder 3er-Gruppen im Raum bilden lauter kleine Blasen: Kleine Gebilde der Intimität inmitten eines größeren, öffentlich geteilten Raums. Wir üben in Zukunft immer besser die Kunst der visuellen wie der akustischen Diskretion.
(Vielleicht hat das ja sogar eine präventive Nebenwirkung für den Infektionsschutz, der gleichsam die Mund-Nasen-Maske ersetzen könnte: Weniger und leiser sprechen – weniger Aerosole in den Raum abgeben ...).

Kaffeehaus, Bibliothek, Club:
Einsamkeit oder Zweisamkeit in der Masse, ein Stück weit sich in einem anderen Medium auflösen, und dabei doch eine starke Form der Intimität behalten.

 

7.) Das Spiel des Erotismus – unmöglich-mögliche Berührung

 

Flirt und Kompliment
Soziale Interaktionen, taktvolles Spiel an der Grenze zur anderen

 

 

* Flirt

 

„Nach der Sitzung bemerkte ich an meiner rechten Hand kleine glitzernde Partikel. Sie klebten, ließen sich aber von den Händen reiben und schwebten zu Boden. Dort fanden sich dann noch deutlich mehr schimmernde Partikelchen.

Ich sann und mir fiel ein, dass die erste Analysantin des Tages ein glitzerndes Make-up trug. Sie hatte gezögert, sich auf die Couch zu legen. ‚Ich glaube, das geht heute nicht.’ Sie sah mich so versonnen an, dass ich spontan – in diesem Moment nicht auf dem Platz des Analytikers – nichts dagegen gehabt hätte, wenn sie mir gegenüber gesessen hätte.

Dieser Platzwechsel vom Analytiker zum Mann, der für Reize empfänglich ist, ist natürlich eine nachträglich eingeschobene, ziemlich reale Fiktion. Die eine Rolle wird immer ganz unterschiedlich zum Aufmerksamkeitsverstärker für die andere. Beide hängen zusammen, kleben aneinander. Die gleichschwebende Aufmerksamkeit ist geübte décollage.

Die Analysantin setzte sich tatsächlich kurz hin, entschied sich dann aber mit einem Ruck um. Das war der gleichschwebenden Aufmerksamkeit dienlich.

Nachdem mir das wieder eingefallen war, fand ich weiteren Flitter auf der Couch, auf dem Kopfkissen und im Sessel. Es war nicht genug Zeit, den Staubsauger zu holen.

Der nächste Analysant, der immer sehr genau alle Veränderungen im Raum beachtet, fragte, bevor er sich auf die Couch legte: ‚Was war denn hier los?’ Er machte aus seinen Händen Teppichklopfer, behandelte die Couch und legte sich hin. Ein produktiver Start in die Sitzung.

Am übernächsten Tag berichtete ein Analysant: ‚Vorgestern, als ich nach der Sitzung auf die Straße trat, kam von schräg hinten eine junge, adrette und kecke Frau auf mich zu. Sie fragte: ‚Darf ich?’ und klopfte schon auf meinem Rücken herum. Ich war vollkommen perplex. Sie Frau wurde rot. ‚Oh, entschuldigen sie, dass mein Ordnungstick mich übermannt hat. Aber Sie hatten auf ihrem schwarzen Pulli lauter Flitter.’ Einmal erschüttert wurde ich für meine Verhältnisse richtig frech. ‚Wenn ich jetzt schon sauber bin, können wir hier im Café ja auch noch einen Kaffee trinken.’ Morgen treffen wir uns wieder.’

Auch das eine Eröffnung für eine spannende Phase in der Analyse.

Der Analysant lachte: ‚Ich weiß ja nicht, woher der Flitter kam, aber der muss ja hier von Ihnen gewesen sein.’“

 

(Riss. Zeitschrift für Psychoanalyse, Heft Nr. 90 (2018), S. 13f.)


* Komplimente 

Süddeutsche Zeitung 5./6. Juni 2021:

Eiertanz
Komplimente sind wichtig für das Zusammenleben, erfordern aber viel Fingerspitzengefühl. Über eine Gratwanderung, die gerade nach einem Jahr des sozialen Rückzugs nicht jedem gelingt

„Wie drückt man Anerkennung, Bewunderung, Zuneigung heute aus, ohne ins Peinliche abzurutschen? Dafür braucht man schon etwas Feingefühl. Schließlich gibt es dafür keine Regeln, keinen Komplimente-Kodex. Dass viele Menschen nach mehr als einem Jahr Pandemie sich erst wieder daran gewöhnen müssen, macht die Sache nicht gerade leichter.“