Raus aus der Blase?

Mi., 7. Juli 2021
15:52 Uhr

eine Skizze für das letzte Denkkollektiv zur Neuen Vorsicht von Kilian Jörg

Raus aus der Blase?

eine Skizze für das letzte Denkkollektiv zur Neuen Vorsicht von Kilian Jörg

Ein dem “Schau nicht weg!” im digitalen Zeitalter verwandter Ausspruch ist jener des “Raus aus der Blase!”. Besonders seit der für viele Progressive schockhaften Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten macht sich ein großer Zweifel an der Legitimität des eigenen Standpunkts unter ihnen breit. Die Amassierung schrecklicher Postings und Inhalte im Internet gepaart mit den verstörenden Wahlergebnissen der Zeit führen zu einem Gefühl, von der Gesellschaft und ihren Problemen entfremdet zu sein. Hat man noch die richtigen Antworten auf die sozialen Probleme der Zeit? Aus gutem, progressiven Anstand fühlt man sich gehalten, aus der eigenen, als wohlsituiert verstandenen Blase heraus zu begeben und die Probleme der “echten Menschen” zu erforschen.

Ausdruck eines guten politischen Gewissens der Progressiven ist neben dem “Schau nicht weg” also auch der Imperativ, aus der eigenen Komfortblase (die dem Generalverdacht zu komfortabel zu sein ausgesetzt wird) und mit “den Anderen” zu diskutieren. Beispielhaft für diese Haltung ist die aus dem Neon Magazin Royale (des staatlichen Senders ZDF) bekannte Autorin Sophie Passmann, die in ihrem Buch “Alte Weiße Männer” von 2019 das Gespräch mit Leuten anderer Meinung als “radikale Handlung” bezeichnet. 

Sogar der deutsche Bundespräsident F.W. Steinmayer nimmt in seiner “Mauer in unseren Köpfen”-Rede zum dreißigjährigen Mauerfall 2019 eine ähnliche Art der “Raus aus der Blase”-Haltung ein:

Aber quer durch unser Land sind neue Mauern entstanden: Mauern aus Frust, Mauern aus Wut und Hass. Mauern der Sprachlosigkeit und der Entfremdung. Mauern, die unsichtbar sind, aber trotzdem spalten. Mauern, die unserem Zusammenhalt im Wege stehen. Und wissen Sie was? Die Berliner Mauer, die hatte Ulbricht gebaut. Die hat ein Unrechtsregime errichtet. Aber die neuen Mauern in unserem Land, die haben wir selbst gebaut. Und nur wir selber können sie einreißen. Also schauen wir nicht zu, klagen wir nicht darüber: Reißen wir diese Mauern endlich ein!

Jeder und jede, die hier heute steht, jeder und jede in unserem Land, kann etwas dafür tun. Denn Zusammenhalt, den kann man nicht von oben verordnen. Zusammen hält, wer zusammen tut. Also tun wir was! Ziehen wir uns nicht zurück hinter Mauern und in Echokammern. Sondern streiten wir für diese Demokratie!

Spätestens wenn Staatspräsident und Staatsfernsehen den Zusammenhalt und den Austausch über die eigenen Grenzen und habituellen Gepflogenheiten hinaus gemahnen - und so die Haltung des “Raus aus der Blase” zur Staatsraison wird, sollte man beginnen, diese kritisch zu hinterfragen1: Warum sollen alle mit allen reden? Warum sind wir allerorts gehalten, mit jede*r und überall zu reden und zu streiten? Und in was für einer Sprache überhaupt? Warum wird dies gerade heute zu einer so großen Ideologie? Ist dieser Anspruch nicht auch von einem Bild gesellschaftlicher Homogenität getragen, welches gefährlich sein kann? Warum darf es nirgendwo minoritäre Nischenmeinungen geben? Muss aus den vielen Gesellschaften, die unser mehr-als-menschliches soziales Patchwork ausmachen, wirklich die eine, progressiv richtig eingestellte Gesellschaft werden, in der sich alle untereinander verständigen können? Brauchen wir den Überblick über die Meinungen um ein Gefühl der eigenen Lebensrealität zu haben? Was versprechen wir uns von ihm? Was kostet dieser ökologisch und aufmerksamkeits-ökonomisch? Und wohin ist der Wert des vor wenigen Jahrzehnten noch pop-kulturell ausgeschlachteten Undergrounds verschwunden?  

Allerorts reden wir von einer Spaltung der Gesellschaft. Doch was ist, wenn sich hinter der oberflächlichen Analyse dieser Spaltung eine immer größer werdende Homogenisierung und Normalisierung der Lebensweisen der menschlichen Bewohnungs-weisen dieses Planeten ereignet, und die Spaltung also nur eine sekundäre Folgeerscheinung davon ist? Wo auf dieser Erde sprechen die Progressiven nicht einwandfrei Englisch und sind global vernetzt, während die Konservativen mehr auf ihre eigenen Sprachen und lokalen Kulturbezüge pochen? Wo haben nicht fast alle ein Smartphone in der Hand, was ihren Alltag gestaltet und ermöglicht? Wie viele sind nicht von automobiler Infrastruktur und fossilen Brennstoffen in ihrem Alltag abhängig? Immer mehr Menschen wohnen in urbanen Kontexten, leben in konsumkapitalistisch geprägten ökonomischen Bezügen und arbeiten im sekundären oder tertiären Sektor, zumeist und großteilig von einem Display. Wir alle sind über die Plattformen und Serverlandschaften der vier neuen Monopolisten GAFA vernetzt, public personas wie Greta Thunberg oder Donald Trump sind in Windeseile überall auf dem Planeten fast jedem Menschen ein Begriff und die Nachrichten der neuesten Schreckensereignisse sind per live ticker und push nachrichten sofort Diskussionsgegenstand in allen Winkeln dieses Planeten. 

Das sogenannte Anthropozän, in dem der Mensch angeblich zur geologischen Größe mutiert, lässt sich auch gut als Homogenozän bezeichnen, wie dies Charles C. Mann in seinem Buch Kolumbus’ Erde über die Folgen der amerikanischen Kolonialisierung anmerkt. Wahrscheinlich reden wir allesamt so viel über die drohende Spaltung der Gesellschaft, weil sich unsere Lebens-, Austausch- und Kommunikationweisen sowie unsere Weltzugänge und Problemanalysen immer mehr medial und real angleichen. Denn: In welchem Winkel des Planeten ist die Spaltung der Gesellschaft gerade nicht ein Problem erster Güte für die hegemoniale Diskussionskultur? Könnte es nicht sein, dass genau diese Spaltung ein medial bedingtes Resultat unserer rasanten Homogenisierung und Zunahme von Austausch darüber ist?

Natürlich lässt sich eine Spaltung bemerken, wenn man in die Diskussionsforen und Wahlergebnisse blickt. Doch darf man dabei nicht übersehen, dass wir in beiden dieser Indikatoren im Vokabular des Distanzsinn Auges manövrieren. Sowohl Social Media Kommentare als auch Wahlstatistiken sind per Definition von den realen, alltäglichen Bezügen der Menschen entfernt, wenn wir sie lesen. Wir wissen nicht, wer genau die Menschen sind, die da posten und wählen. Wir haben bloß einen Überblick über allgemeine, in Text und Bild ausdrückbare Umstände und nehmen es für die Totalität des Seins. Das Material, das uns von ihnen spricht sind Überblicksindikatoren, die uns nichts weiteres über die konkreten Probleme und Situationen dieses Menschen verraten. Vielleicht ist diese Gewaltandrohung oder jener Mordaufruf, der uns als Post erschreckt, “nur” die normale Weise, wie diese Person in ihren (wahrscheinlich nicht sehr einfachen) Lebensbezügen zu reden gewohnt ist. Ich bring dich um, oder ich ficke dich / Deine Mama etc sind leider in vielen Milieus normale Umgangsformen, die nicht konkret die Absicht ausdrücken, die sie semantisch bezeichnen. Dasselbe trifft leider auch oft (aber nicht immer!) bei Holocaust-Verharmlosungen und ähnlichen Grausamkeiten zu. Bei manchen sind solche Sprüche Teil eines antisemitisch geprägten Umfelds, welches nie zu genüge reflektiert wurde - bei anderen ist es ein durchaus bewusst eingesetztes Provokationsinstrument. Wenn man sich vom Status Quo des rasenden Stillstands zerquetscht fühlt und keinen Zugang zu den bildungs- und kulturnäheren Outlets dieses Frusts hat, kann man mit einer Naziverharmlosung noch am ehesten auf sich aufmerksam machen.

Wir laufen also Gefahr, im digitalen Raum diese Spaltung voranzutreiben, wenn wir jedes Wort darin für bare Münze nehmen. Damit begehen wir einen logozentrischen Kategorienfehler, der übersieht, dass die Anwendung von Sprache nicht immer bloß der Funktion der Übermittlung von semantischer Information folgt, sondern oft auch eine performative Qualität hat. “Ich ficke Deine Mama!” hat in den allermeisten Momenten eine rein performative Absicht, hinter der sich selten das wirkliche Begehren mütterlichen Koitus verbirgt. Man könnte hoffen, dass dasselbe bei “Ihr solltet alle vergast werden!” zutrifft.

Natürlich schrammt eine solche Haltung stets gefährlich an der Verharmlosung vorbei und darf nicht für die einzige und ganze Wahrheit verkauft werden. Absicht dieses Plädoyers ist es darauf hinzuweisen, dass auch die andere Haltung des “Raus aus der Blase!” die mit allen reden und streiten will, nicht gänzlich ohne Gefahr ist. Alles zu sehen, zu diskutieren und zu kommentieren kann auch - besonders im Distanzraum des digitalen Mediums - die Spaltung weiter fördern. Wir polarisieren uns immer mehr auf den immer gleicheren Plattformen, wenn wir uns nur dieser digitalen Streitlogik eines optisch verfassten digitalen Überblicks hingeben. Bekanntlich setzen die Algorithmen von Facebook und Co auch darauf, uns einerseits möglichst ähnliche, und andererseits möglichst divergierende Meinungen in unserer Feed zu zeigen: denn so verbringen wir die längste Zeit auf ihnen, wodurch sich qua Werbeeinnahmen die Plattform eigentlich finanziert. Die Polarisierung ist das Kapital eines neuen, digitalen Monopolkapitalismus, der die Welt und unsere Bezüge zu ihr immer mehr angleicht. Die Spaltung ist ein Symptom dieser Gleichschaltung.

Wir hassen und verurteilen uns also immer mehr [in den immer-gleichen digitalen Räumen], weil der Geschmack der Menschenwelt immer eintöniger wird. Man tippt frustriert seine jeweilige Scheiße ins für alle fast gleiche Keyboard, weil man verbittert darüber ist, wie wenige andere Möglichkeiten der politischen, kulturellen und sozialen Weltteilhabe es noch gibt. Besonders während der Covid-19 Lock-Downs, bei denen fast alles verboten war, was nicht digitale Teilhabe war, hat man das Ansteigen dieses Frusts und der daraus resultierenden Polarisierung eindrücklich gespürt. Die Spaltung der Gesellschaft sollte also vielmehr als ein Ausdruck des Frusts über das Ausbleiben und Unverfügbarsein von alternativen Lebensmodellen verstanden werden. Und wenn wir innerhalb dieser hegemonialen Lebensweise uns zu sehr auf die eine oder andere Seite schlagen, machen wir uns zum Teil dieser bipolaren Homogenisierung und bestärken diese Dynamik nur noch weiter. Man muss sich vielmehr der geschmacklosen Homogenität der Welt im digitalen Überblick entziehen, um auch der Polarisierung etwas Wirksames entgegen zu setzen. Vieles nicht sehen, um bessere Welten schmecken zu können! Hören wir also auf, wie es uns Staatsfernsehen und Staatspräsident predigen, mit allen jederzeit im digitalen Raum reden zu wollen. Sehen wir lieber weg und spüren nach, wo die Welt noch besser schmeckt - und wie wir diese vielfachen Geschmäcker wieder attraktiver und breiter zugänglich machen können. Es gilt, die Geschmäcker der Welt wieder bunter und pluraler zu machen - und dies lässt sich nur bedingt über einen jederzeit für jeden einsehbaren Diskurs erzielen.

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1 Und dies gar nicht unbedingt aus dem Anspruch und der Haltung heraus, die majoritäre Staatsvernunft als per se schlecht abzutun, sondern vielmehr ihr andere Vernünfte komplementär entgegen zu stellen. Wie ich in meiner Arbeit Affirmation of Ecological Reasonings - What to do with reasonability in the Anthropocene? zu zeigen versuche, ist jede Vernunft - egal wie gut und löblich  ihre Maximen und Grundsätze auch sein mögen - gefährlich, sobald sie eine Art Majorität erreicht, in der sie als die einzige Vernunft erscheint. Diese Gefahr scheint mit beim “Schau nicht weg!” und dem “Raus aus der Blase!” gegeben zu sein.