Die Skizze einer Abhandlung ohne Ende
Wir wandern in der Nacht eine Landstraße entlang. Die Zikaden hüllen uns in ihr Sommerkonzert, die Sterne funkeln aufgrund des schwülen Wetters eher schwächlich. Plötzlich durchbricht ein Blitz die nächtliche Geborgenheit: ein Fauchen, welches beunruhigend schnell lauter wird. Ein gleißend weißes Licht kommt uns im rasenden Tempo entgegen. Kurz hört und sieht man nichts anderes. Wir wissen instinktiv an den Rand der Straße auszuweichen, lassen das laute Monster vorbeiziehen. Es zieht einen roten Schweif hinter sich her und schon ist es wieder verschwunden. In unseren Rücken röhrt es noch ein bisschen. Ansonsten stellt sich die Stimmung der Nacht wieder her. Unsere Augen und Ohren gewöhnen sich zaghaft an die sanfteren Register der Nacht.
Für an den modernen Lebensstil gewöhnte Wesen ist eine solche Szene so alltäglich, dass sie kaum einer Beschreibung bedarf. Ein Auto. Vielleicht ein Familienvater, der nach Überstunden auf der Arbeit möglichst schnell nach Hause will. Nichts weiter zu Beachtendes. Es ging so schnell vorüber, man vergisst es.
Stellen wir uns vor, diese Szene wäre durch ein spontates Wurmloch im Raum-Zeit-Gefüge gefallen und hätte sich einem Menschen des 17ten Jahrhunderts dargeboten: wenn sie den Schock dieses unbegreiflichen alien encounters überlebt hat, würden ihre Erzählungen wahrscheinlich noch die lokalen Sagen der drei Generationen nach ihr beeinflussen.
Tatsächlich skizziert Ursula LeGuin in Always Coming Home eine ähnliche Begegnung mit einem aus seinem zeitlichen Normalitätsrahmen gefallenen Auto.
[An dieser Stelle empfiehlt sich die Lektüre von "A Hole in the Air“, S. 154-157 in Always Coming Home und dann „Direction of the road“, S. 247-253 in The Wind‘s Twelve Quarters & The Compass Rose beide von Ursula LeGuin.]
Die Katastrophe wird normalerweise als Bruch in und mit der Normalität begriffen. Doch was passiert, wenn wir uns in der Katastrophe als Normalität einrichten?
Vor dem einmaligen, plötzlichen Ereignis reagieren wir adrenalingeladen mit schnellen Bewegungsänderungen etc. Wenn die Katastrophe jedoch normal wird, richten wir uns in dieser höchstgefährlichen Realität ein – werden Teil von ihr – und dann wird diese Katastrophe unsichtbar, so normal, dass sie nicht mehr sinnlich auffällt, sich uns nicht mehr aufdrängt.
Die beiden Geschichten von Ursula LeGuin zeigen diese katastrophale Normalität von einer spekulativen Außenperspektive. Der namenlose Erzähler in der Geschichte „A Hole in the Air“, ein Mensch oder zumindest posthumaner Nachfolger von etwas ehemals Humanen, ist bestürzt darüber, wieviel Tod, Feuer, Verwesungsgestank und Rauch in der Luft dieser Normalität liegt. Alles erscheint ihm in dieser als Seance erlebten Welt – die freilich die unsere ist – als Krieg, Todeslust und Zerstörung. Die Menschen, denen er begegnet, wirken wie blind. Sie sehen nicht, was „inside the world“, in der Welt ist, sondern starren gespenstisch in außerweltliche Fernen. Sie führen einen Krieg mit der Welt durch ihre normale Lebensweise und überall wo sie sind, ist Krieg. „He tried to get away from the war by going on, but it was everywhere they lived, and they lived everywhere.“ Die einzigen anderen Lebewesen, die sich mit diesem Krieg abfinden können, sind scheinbar die Raubvögel, die die von der allgemein wenig beachteten Leichenproduktion der modernen Lebensweise profitieren.
Es ist kein Zufall, dass die Autos und ihre Infrastruktur den Rahmen dieser Katastrophenerzählung als Normalität bilden. In „The Direction of the Road“ wird klar gemacht, dass es die Autos sind, die die Menschen blind für die Realität machen. Hören wir der speklulativen Stimme eines Baumes zu, der sich über die rasante Zunahme der schnellen mechanischen Dinge namens Autos wundert, die an ihm vorbei donnern:
„For my road had become a busy one; it worked all day long under almost continual traffic. It worked, and I worked. I did not jounce and bounce so much any more, but I had run faster and faster: to grow enormously, to loom in a split second, to shrink to nothing, all in a hury, without time to enjoy the action, and without rest: over and over and over.
Very few of the drivers bothered to look at me, not even seeing a glance. They seemed, indeed, not to see any more. They merely stared ahead. They seemed to believe they were ‚going somewhere‘. Little mirrors were affixed to the front of their cars, at which they glanced to see where they had been; then they stared ahead again. I had thought that only beetles had the delusion of Progress. Beetles are always rushing about, and never looking up. I had always had a pretty low opinion on beetles. But at least they let me be.
I confess that sometimes, in the blessed nights of darkness with no moon to silver my crown and no stars occluding with my branches, when I could rest, I would think seriously of escaping my obligation to the general Order of Things: if failing to move.“
Der Stress der modernen Welt als laute Zerstörungsorgie treibt viele andere irdene Wesen in Selbstmordgedanken – sie fühlen sich vertrieben vom kontinuierlichen Rauschen und Stinken dieser giftigen Normalität und schwanken, wollen vielleicht nicht mehr, können vielleicht nicht mehr. Werden an den Rand gedrängt und dann raus.
(Alfred Kubin, der Staat (1901))
Schon Paul Virilio hat in der Postmoderne die moderne Ordnung als einen verewigten Kriegszustand gelesen. Ausgehend von der Einsicht, dass beinahe jegliche technologische Neuerung des letzten Jahrhunderts militärischen Ursprungs ist (das Telefon, das Internet, die Flugzeuge und ja – auch das Auto ist von seinem Grunddesign am Fahrgestell des Panzers orientiert) ist die kapitalistische Gegenwart nur mehr als kriegstreiberisch zu verstehen – selbst wenn oberflächlich so etwas wie „Frieden“ herrscht.
Michel Serres, ungefähr gleichen Alters und vielleicht eindeutigster Brückenkopf zwischen französischer Postmoderne und der rezenteren Wendung des französischen Denkens hin zu einer Ökosophie, münzt diese Analyse auf einen „Krieg gegen die Natur“ um, in der sich die europäische Neuzeit begibt. Mit Descartes beginnt demnach nicht nur die ideologische Verneinung der Legitimität der materiellen, nicht human-überformten Welt. Nein, es wird dieser nicht nach menschlichen Kommando tanzenden Welt der Krieg erklärt: sie wird zunehmend besetzt und an das harte, militärische Regiment der modernen Lebeweisen angepasst. Dies nennen wir heute Anthropozän, wenn wir den namensgebenden anthropos von seinem falschen Universalismus strippen und als modernen, andro- und eurozentrischen Menschen verstehen. Diese Art Menschsein hat den gesamten Planeten mit einer dominanten – und sich immer mehr homogenisierenden – Lebensweise überzogen, die einen Kriegszustand mit ganz vielen anderen – menschlichen wie nicht-menschlichen Seinsweisen – darstellt.
Ursula LeGuin ist aber wahrscheinlich mehr von indigenen amerikanischen Philosophien beeinflusst, als von französischen. Ihre Protagonist*Innen in Always Coming Home sind – nach einer kurzen, modernen Verwirrung der majoritären Lebensweise auf dem amerikanischen Kontinent – wieder zu alten Weisheiten und Kosmologien des amerikanischen Kontinents in vorkolonialer Zeit zurück gekehrt. Always Coming Home spielt so weit in der Zukunft, dass diese Geschichte gar nicht mehr als post-apokalyptisch bezeichnet werden kann: denn die Apokalypse, der Untergang der modernen, US-amerikanischen Komfortwelt ist schon so lange her, dass er beinahe gänzlich vergessen ist. Es erscheint nur mehr als ein vergleichsweise kurzes Ausreißen aus einer langen Kontinuität der Co-Critter-schaft mit der Erde – an einen kurzen, seltsamen Moment, in dem man an Fortschritt, Geschichte und ja – auch die Apokalypse – glaubte. Diese Zeit ist vorbei. Die Apokalypse gibt es nicht mehr, sondern eine Kosmologie des zyklischen Mit-der-Welt-Lebens, welche gar keinen Platz mehr für solch megalomanische Phantasien wie das Menschenzeitalter und seinen Untergang hat. Zwar gibt es noch diverse, vergiftete Dead Zones aus dieser kurzen Irregularitätszeit, sowie die ein oder andere autarke Serverlandschaft, die ihr seltsames Dasein als Orakel fristet, doch diese sind nur Nebenschauplätze, Dinge, um die sich das Leben nicht mehr fokussiert.
In ihrem Buch The Ends of the World beschreiben Deborah Danowksi & Eduadro Viverios de Castro, dass der Beginn des Anthropozäns mit der Besiedelung des amerikanischen Kontinents bereits das Ende der Welt für viele amerindische Kosmologien bedeutet. Für viele, die nicht dem Label anthropos entsprechen (und das sind auch viele, die biologisch humanoid sind), endet die Welt seit 1492. Das Bild vom plötzlichen, als Kataklysmus erscheinenden Weltenende, wie es in Hollywood und diversen Serien als Meteor, große Welle, nukleare Kettenreaktion, etc. dargestellt wird, entspricht nicht dem Ende der Welt, welches das Anthropozän für viele Lebewesen bedeutet. Vielmehr erleben wir ganz viele Enden von Welten: Lebewesen und ihre Umwelten, die sich nicht mehr in den sich ausbreitenden Straßennetzen, Häuserreihen und Mikroplastikwolken der modernen Welt arrangieren können und also langsam aufhören, ihrer „obligation to obtain the Order of Things“ nachzukommen. Sie sterben aus – oder passen sich an die homogen-hegemoniale Norm an, was zumeist dasselbe bedeutet.
An die Katastrophe als kataklystisches Event kann man sich nicht gewöhnen: in ihm ist keine Normalität möglich, die Charaktere sind hochgescheucht, handeln panisch und oder heroisch und finden als Hollywood-Helden und Held*Innen noch irgendeine Möglichkeit der agency, die sie vorm Schlimmsten bewahrt und – zumeist – in eine Art post-apokalyptische Kernfamilien-Idylle rettet.
Doch die Katastrophe, die das Anthropozän darstellt, ist eine langsame, schleichende: es ist eine gefährliche Verkettung von vielen Enden der Welt, die schon seit Jahrhunderten ihr Unwesen treibt und welche auch uns langsam – aber doch sicher – den Boden zum Leben unter den Füßen weg zieht. Doch vom Innenraum dieser Katastrophe, an die wir als Normalität gewöhnt sind, sehen wir die Dringlichkeit der Lage nicht. Das Problem an der Katastrophe namens Anthropozän ist, dass sie so groß ist, dass wir sie leicht übersehen können. Wir schauen vorwärts, die Maschinen, die wir bedienen und Lebensweisen, die sie implizieren, machen uns blind für die notwendige Art Sinnlichkeit, die ihre slow violence, wie es Rob Nixon nennt, wahrnehmen könnte. Es verändert sich so langsam etwas so gewaltiges, dass unsere schnellen Lebensweisen dafür keinen begrifflichen Rahmen entwickeln.
Es ist mittlerweile ein common place, dass die Corona-Krise eine Miniversion der Klimakrise ist. Die Parallelen zeigen sich auch in dem Umstand, dass auch in dieser vergleichsweise kleinen Krise die Katastrophe zur Normalität wurde. Zwar dauert der pandemische Belagerungszustand – wie es Karl Lauterbach neulich genannt hat – erst zwei Jahre an, doch die Gewöhnung an die Katastrophe hat sich schon allernorts durchgesetzt: immer weniger Menschen fühlen sich zur Handlung, zum Reagieren, zum Etwas-Ändern-Wollen aufgescheucht. Die Beteuerungen der positiven Effekte der Krisenmaßnahmen sind verklungen und großteils nimmt man eine depressive Apathie wahr, über die es kaum mehr ein Medium oder eine Art zu sprechen gibt. Jede* kennt den Moment in einem Gespräch, wo man nach kurzen Monieren des aktuelles Corona-Zustandes einhält und sich gegenseitig versichert, es nützt ja nichts, darüber zu reden. Die Katastrophe ist so normal, so alltäglich geworden, dass man am liebsten von ihr weg sieht – sie versucht, irgendwie auszublenden.
Stellen wir uns vor, diese coronale Katastrophennormalität würde noch 50 Jahre andauern: wir würden sie gar nicht mehr wahrnehmen: wie sehr sie uns beschneidet und in einen Tunnelblick der Möglichkeitshorizonte zwingt.
Ich möchte behaupten, dass dies bei der Klimakatastrophe schon längst der Fall ist: hier sind wir alle in eine katastrophale Normalität geboren, deren Beschneidungs- und Bedingungsrahmen uns gar nicht mehr als irgendwie wahrnehmbar erscheint. Wir fahren weiter Auto, sehen nach vorne (und im Rückspiegel nach hinten) und glauben an den Fortschritt durch E-Autos und Carbon-Offsetting. Das die Bäume am Wegesrand hierauf weniger Lust haben – und sich Millionen von Kleinsttieren weiter suizidal vor die Reifen werfen, dass nehmen wir kaum wahr – und noch seltener wird es Gegenstand eines gesellschaftlichen Diskurses.
Neulich saß ich in einer ländlichen Pension beim Frühstück. Die Tischnachbarn unterhielten sich im Kennerton über ihre schöne Heimat, was da so keucht und fleucht. Über den Bestand der lokalen Fauna wussten sie vor allem darüber Bescheid, was sie bereits mit ihren Autos angefahren haben. „Ja, Luchse gibt es hier. Mein Schwager hat erst letzte Woche einen angefahren,“ erzählte man sich stolz und in amüsierter Stimmung. Sie fühlen sich wohl in ihrer Heimat, brauchen diese als ideologischen Halt am Weg zwischen ihrer monotonen Lohnarbeit und den Wegen in die überall gleichen Supermärkte und Reihenhaussiedlungen.
Ich glaube, das Auto hält gut her als Metapher zum Nachdenken über diese Katastrophe als Normalität, da wir alle an das Auto in einem derart großen Maße gewöhnt sind, dass wir seine schlimmen Effekte nicht wahrnehmen können, sofern wir im urbanen Alltag einigermaßen so genannt „neuronormal“ funktionieren wollen.
Das einfachste Beispiel: wer kennt nicht das unangenehme Beißen vom Auspuffgestank nur EINES Autos in der Nase nach einem ausgedehnten Waldspaziergang? Nach ein paar Stunden weg von der auto-normalen Realität fällt uns auf einmal auch nur ein Auto olfaktorisch extrem negativ auf, während die Autokolonnen am Gürtel uns im Alltag kaum auffallen. Ebenso führen wir Gespräche neben der stark befahrenen Autostraße und hören gar nicht, was wir alles unterdrücken: wir filtern den RELEVANTEN Ton heraus – das heißt die rational intelligiblen Stimmen anderer anthropoi – und alles andere betritt unsere Alltagsrealität kaum.
Im Computerspiel SimCity war die Absicht der Designer ursprünglich die Städte so originalgetreu wie möglich abbilden. Doch sehr bald zeigte sich ein Problem:
„Librande: When I started measuring out our local grocery store, which I don't think of as being that big, I was blown away by how much more space was parking lot rather than actual store. That was kind of a problem, because we were originally just going to model real cities, but we quickly realized there were way too many parking lots in the real world and that our game was going to be really boring if it was proportional in terms of parking lots.
Manaugh: You would be making SimParkingLot, rather than SimCity.
Librande: [laughs] Exactly. So what we do in the game is that we just imagine they are underground. We do have parking lots in the game, and we do try to scale them -- so, if you have a little grocery store, we'll put six or seven parking spots on the side, and, if you have a big convention center or a big pro stadium, they'll have what seem like really big lots -- but they're nowhere near what a real grocery store or pro stadium would have. We had to do the best we could do and still make the game look attractive.“[1]
Was ist wenn die Katastrophe nicht, wie uns Hollywood allen beigebracht hat, das kataklystische, spektakuläre und irgendwie auch – zumindest optisch – geile Ausnahmeereignis ist, sondern tatsächlich viel mehr die Langweiligkeit des betonieren und fossil-betriebenen Status Quo unserer gegenwärtigen Normalität? Auf einen lauten Knall muss jede*r irgendwie reagieren, doch in einer langweiligen, nervtötenden Normalität kann sich die schlimmste Sachlage verstecken, ohne dass jemand hinsehen wollte. Man google den Namen einer Stadt seiner Wahl: in keinem der ersten zig Bilder wird auch nur ein Auto auftauchen. Egal ob Paris, London, Tokyo, Wien oder Berlin – die Bilder, die wir uns von den Zentren menschlicher Zivilisation machen, haben wenig zu tun mit der Realität, in die wir als Tourist*Innen oder Arbeitsreisende hineinfahren. Auch in Stadtwerbungen und Filmen sind Autos beinahe gänzlich absent, wenn sie nicht im Mittelpunkt stehen. Man stelle sich als Beispiel die Dialoge in „Fabelhafte Welt der Amelie“ in den fabelhaften Straßen des Paris der Jahrtausendwende untersetzt vom Originalton dieser Straßen vor. Der Film wäre vom süßen Hitfilm in die obskurste Nische der Experimentalfilme abgerutscht.
„Das ist doch nicht normal“. Sobald wir Teil einer Normalität sind – und egal, ob wir das wollen, oder nicht – definiert sie nicht nur unsere Erwartungshaltungen, sondern auch unseren Wahrnehmungs- und Handlungsrahmen. Selbst unsere Ideen von Kritik und Flucht sind von dieser Normalität geprägt und können nicht unabhängig von ihr gedacht werden. Es ist normal, in dieser Scheißrealität abhauen zu wollen, auf das eigene Öko-Gewissen mal wieder zu scheißen und den billigen Flug in den Süden zu buchen. Es ist auch normal, in dieser von Blechlawinen geprägten Welt von der orgiastischen Zerstörungsorgie in dieser Autowelt zu träumen. Ein jede Autoverfolgungsszene ein jedes amerikanischen Actionfilms lebt dieses latente Normalitätsbedürfnis aus. Die spektakulären Hollywood-Katastrophenfilme und ihre vielen Feuerbälle lenken vom eigentlichen Problem unserer Katastrophen ab: es geht nicht darum, sich allzeit bereit zu halten für das Einbrechen des katastrophalen Moments, in dem man sich dann in heroischer Glanzleistung profilieren kann. Die ganzen Fitnessstudiobesuche, das Aufpumpen für den großen Moment, sind umsonst.
Wenn die Normalität tatsächlich eine Katastrophe ist, dann kann uns kein mehrheitsfähiger Diskurs – und auch kein mehrheitsfähiges politisches Programm mehr helfen. Denn wie sollte es kommen, dass die Mehrheitsgesellschaft plötzlich für das Abnormale steht? Dies ist schon ein beinahe tautologischer Widerspruch – als ob der Mittelwert einer Zahlenreihe nicht das Normale wäre.
Man könnte schematisch sagen, dass klassische emanzipatorische Politik versucht, die Normalität allen zugänglich zu machen: eine faire Bezahlung / Behandlung / Lebensweise für alle! Doch in der Zeit des Anthropozäns zeigt sich die Normalität zusehends als katastrophal verfasst: die humanistischen Ideale des anthropos wären nie als allgemeines Recht für jeden Menschen möglich gewesen. Die Möglichkeit ihrer Existenz baute im Gegenteil auf der Ausbeutung und Unterdrückung von nicht als weiß und männlich gelesenen Menschen auf. Die anthropozentrische Normalität des Humanismus ist eine Katastrophe für die allermeisten auf diesem Planeten. Der Anspruch auf allgemeine Durchsetzung dieser Normalität kann also kein Programm mehr sein, dem sich eine emanzipatorische Politik im Anthropozän annehmen kann.
Anstelle einer Emanzipation zur Normalität muss eine zeitgemäße Politik eine Emanzipation von der Normalität versuchen.