Foto: Sabina Holzer, NS Zwischenlager, Straßhof a/d Nordbahn, Mai 2017
Es gibt in der Sprache – so de Saussure – keine positiven Bedeutungen, diese ergeben sich vielmehr ex negativo in Abgrenzung zu den sie umgebenden Elementen. Diesem Ansatz wohnt ein stark dezentrierendes Moment inne: Ein von sich aus bedeutungstragendes ‚Zentrum’ wird vor diesem Hintergrund völlig undenkbar, vielmehr scheint es sich um ‚verstreute’ sprachliche Glieder zu handeln, die erst in ihrer Unterscheidung zu anderen sprachlichen Gliedern die Möglichkeit von Bedeutung eröffnen. Das sprachliche Zeichen ist somit nicht sinntragend, sondern eher ein Sinn-Potenzial. De Saussure folgert dann auch, daß es in der Sprache nur Verschiedenheiten gibt. Mehr noch: eine Verschiedenheit setzt im allgemeinen positive Einzelglieder voraus, zwischen denen sie besteht; in der Sprache aber gibt es nur Verschiedenheiten ohne positive Einzelglieder.[7]
Das x, als etwas Hörbares, verläuft ausschließlich in der Zeit und hat Eigenschaften, die von der Zeit bestimmt sind […] Diese Besonderheit stellt sich unmittelbar dar, sowie man sie [die akustische Bezeichnung] durch die Schrift vergegenwärtigt und die räumliche Linie der graphischen Zeichen an Stelle der zeitlichen Aufeinanderfolge setzt.[3]
Sowohl das gesprochene, als auch das geschriebene Wort sind bei de Saussure ausschließlich als Signifikanten denkbar, die sich in einer Ordnung der Abfolge und der Reihung bewegen oder besser: nicht-bewegen. Das Moment der zeitlichen Abfolge der lautlichen Signifikanten wird auf die Reihung im Raum der graphischen Signifikanten übertragen. Zwar geht es auch hier bei de Saussure um die Ausdehnung, die Verzeitlichung und die Verräumlichung der Signifikanten, jedoch ist diese Ausdehnung lediglich als zeitliche bzw. räumliche Ausdehnung auf einer Linie gedacht.
Dieses Kriterium der Differenzialität des sprachlichen Zeichens erstreckt sich sowohl auf den lautlichen, als auch auf den graphischen Signifikanten.[8] In dieser Perspektive sind also – entgegen der Saussure’schen Schriftfeindlichkeit – beide Arten der Signifikation, die lautliche und die graphische, gleichberechtigt. Auch der lautliche Signifikant hat keine positive, ‚feste’ Bedeutung, sondern nur ein relatives Bedeutungspotenzial, das sich allein in der Abgrenzung zu und im ‚Zusammenspiel’ mit anderen Signifikanten entfalten kann. Eigentlich bedeutungstragend ist die Verschiedenheit, die Differenz selbst.
Wenn Derrida den Begriff „Schrift“ verwendet, meint er keinesfalls die Schrift im engeren (metaphysischen) Sinne, es geht vielmehr um eine „generalisierte Schrift“ (GR 97). Schrift ist alles, was „Anlaß sein kann für Ein-Schreibung“ (GR 21)
Derridas neuer Schriftbegriff impliziert jedoch eine radikale Abkehr von der traditionellen Saussure’schen Zweiseitigkeit des sprachlichen Zeichens mit der Aufteilung in einen bezeichneten und einen bezeichnenden Teil, denn: die Schrift ist „über den Signifikanten hinaus das Signifikat selbst“ (GR 21, vgl. SuG 58). In der Derrida’schen Schriftkonzeption verschwindet damit die Grenze zwischen dem intelligiblen Begriff und der physischen Bezeichnung desselben. Sprachlicher Ausdruck ist – im Denken Derridas – jenseits der physischen Bezeichnung, der Signifikation undenkbar, – sei sie nun graphisch oder akustisch: „Die Urschrift aber [ist] in der Form und der Substanz nicht nur des graphischen, sondern auch des nicht-graphischen Ausdrucks am Werk.“ (GR 105) Die Signifikation selbst wird zum Bezeichneten, zum Bedeutungsträger.[9]
Die Konzeption der Sprache bzw. der Schrift erfährt bei Derrida eine enorme Dynamisierung, der das Statische und Lineare des traditionellen sprachlichen Zeichens fremd ist: die différance wird als „eine reine Bewegung“ (GR 109) bzw. als „aktive Bewegung“ (GR 88) beschrieben. Dies resultiert vor allem aus der faktischen Löschung des (transzendentalen) Signifikats: das „Signifikat [ist] ursprünglich und wesensmäßig […] Spur“, es befindet sich „immer schon in der Position des Signifikanten [Kurs. i.O.]“ (GR 129). Daraus ergibt sich ein Vorgang der Sinn- bzw. Bedeutungserzeugung, der als unendliches Aufeinander-Verweisen von Signifikanten auf Signifikanten konzipiert ist[11] – und eben nicht, wie es die metaphysische Tradition angenommen hatte, von der Repräsentation eines Bezeichneten durch ein Bezeichnendes ausgeht.
Kein Element kann je die Funktion eines Zeichens haben, ohne auf ein anderes Element, das selbst nicht einfach präsent ist, zu verweisen, sei es auf dem Gebiet der gesprochenen oder der geschriebenen Sprache. Aus dieser Verkettung folgt, daß sich jedes ‚Element’ – Phonem oder Graphem – aufgrund der in ihm vorhandenen Spur der anderen Elemente der Kette oder des Systems konstituiert. Diese Verkettung, dieses Gewebe ist der Text, welcher nur aus der Transformation eines anderen Textes hervorgeht […] Es gibt durch und durch nur Differenzen und Spuren von Spuren. (SuG 66)
Der „Text“ wird hier beschrieben als eine „Verkettung“, als ein „Gewebe“ von aufeinander verweisenden Signifikanten. Diese Signifikanten – „Phoneme“ oder „Grapheme“ – „konstituieren“ sich erst durch die in ihnen „vorhandene Spur der anderen Elemente“. Derrida lehnt also die Annahme einer Existenz voneinander unabhängig existierender sprachlicher Zeichen bzw. Bedeutungen ab. Die Erzeugung von Sinn und Bedeutung könne nur über Differenzen erfolgen – über die Verschiedenheit der sprachlichen Elemente. Der Begriff Spur, also das Vorhandensein von „Spuren von Spuren“, deutet genau darauf hin: Kein Element hat eine eigene feste und kohärente Bedeutung, vielmehr tritt jedes sprachliche Element lediglich als Erzeuger einer Spur bzw. als Spur selbst in Erscheinung: Derrida wählt das Bild der Spur (trace), da diese gerade das sei, „was nicht auf die Form der Präsenz reduziert werden“ könne (GR 99).
Die Annahme eines Signifikats als Zentrum und Träger eines in letzter Konsequenz göttlichen Logos der Präsenz und des Seins – also die Annahme des transzendentalen Signifikats – wird damit abgelehnt. (?)
Die Ablehnung des transzendentalen Signifikats geht gleichzeitig einher mit der Ablehnung eines monozentrischen Sinn- bzw. Bedeutungsverständnisses und der Ablehnung einer linearen Struktur von Sprache: „Die Bedeutung bildet sich also nur in der Einbuchtung der différance: Der Diskontinuität und der Diskretion, der Aufschiebung und der Zurück(be)haltung“
Derrida weist damit auf die Aspekte der Verräumlichung und der Verzeitlichung, also auf die Dislozierung und die Temporalisierung hin. Außerhalb der raum-zeitlichen Ausbreitung, Verteilung und Verschiebung könne es keine Bedeutung geben.[12]
Die Annahme einer rein intelligiblen Bedeutung – eines Signifikats – wird aufgegeben und abgelehnt zugunsten eines Konzepts, das die Erzeugung von Bedeutung bereits im Moment ihrer Entstehung an die Bedingungen raum-zeitlicher Materialisation bindet: Derrida spricht genau deshalb von Ur-Spur, da es „gilt, die Spur vor dem Seienden zu denken.
Bedeutung wird somit gleichgesetzt mit Raum-Werden und zeitlicher (nicht-linearer) Ausdehnung. Dieses Raum-Werden wird von Derrida auch ganz konkret benannt, es geht etwa um „Pause, Leerstelle, Buchstabe, Interpunktion, Intervall“ (GR 118, vgl. auch GR 123), eben um die materiellen Bedingungen jedes sprachlichen Ausdrucks oder Vorgangs. In den Blickpunkt gerät damit „das Vermittelnde, die Materialität der medialen Textualität von Bedeutung“ selbst.[13]
Es gibt keine Sprache und keine Bedeutung außerhalb oder vor der Schrift (vgl. GR 78, SuG 68). Die Derrida’sche Schrift ist ursprünglich und vorzeitig, das „Erscheinen und die Bedeutung“ haben den gleichen Ursprung.[14] Die Bedeutung entsteht mit dem „Erscheinen“, also mit der Materialisation, mit der Verräumlichung und der Verzeitlichung. Das metaphysisch-ontologische Verhältnis von Essenz und Existenz wird somit umgekehrt:[15]
Der Bereich des Seienden strukturiert sich entsprechend den verschiedenen – genetischen und strukturalen – Möglichkeiten der Spur, ehe er als Bereich der Präsenz bestimmt werden kann. (GR 82)
Ganz in diesem Sinne wird die différance auch als das „systematische Spiel der Differenzen, der Spuren von Differenzen“ (SuG 66) beschrieben. Dieses Spiel bedeutet eine „generative Bewegung“ (SuG 67): Mithilfe einer spielerischen Kombinatorik als einer „Aleatorik zufälliger Züge“,[16] die das Verweisen von Signifikanten auf Signifikanten regelt, werden Bedeutungen erzeugt (vgl. GR 17f.). Die Schrift, als Ort der Verraum-Zeitlichung wird zum „Spiel in der Sprache“ (GR 87), das Bedeutungen und Sinn generiert.
Es wurde daran anschließend nachgewiesen, dass Derrida das Prinzip der différance in direktem Zusammenhang mit der Schrift als einer Urschrift bzw. Urspur entwickelt. Allein die Exteriorität der Schrift, das Raum-Werden der Signifikation verschaffe unendliche Möglichkeiten der Bedeutungserzeugung. Die Schrift als das von der Metaphysik unterdrückte und verdrängte Außen gehe jeder Form immaterieller Bedeutung voraus.[17] Vor der Schrift kann es – im Denken Derridas – nichts geben, deshalb spricht er von Ur-Schrift bzw. Ur-Spur.
Abschließend ist zu bemerken, dass die sprachphilosophische Theorie Derridas zwar letztlich eine Arbeit gegen die Metaphysik ist und damit auch gegen Gott, da schließlich „der Name Gottes […] der Name der Indifferenz schlechthin [ist]“ (GR 124). Tatsächlich jedoch ersetzt Derrida lediglich einen Ursprungsmythos (göttliche „Indifferenz“) durch einen anderen: An die Stelle des transzendentalen Signifikats tritt bei Derrida die totale Differenzialität, die sich als vorzeitige und ursprüngliche différance – ebenso metaphysisch – der Beschreibbarkeit entzieht (vgl. GR 114, 116).
Inspirationen von: https://www.texturen-online.net/campus/campustexte/derrida-ii/