Linie

So., 15. Oktober 2017

* Der Unterschied zwischen Text und Bild ist augenscheinlich. Der Text präsentiert Bedeutungen, das Bild präsentiert Form.

) Beiden zeigen etwas: das Selbe und etwas anderes. Indem sie zeigen, zeigen sie auf sich und zeigen somit auch auf das andere. Zeigen sich folglich diesem anderen auch: das Bild zeigt sich im Text, der sich dem Bild zeigt.

~ Das Bild eines Bildes und das Wort «Bild» zeigen dementsprechend auch etwas anderes. Mehr noch: das Wort «Bild» zeigt sich wie ein Bild, während sich das Bild des Bildes wie das Wort «Bild» zeigt. Jedenfalls glauben beide daran oder tun so als ob.

{} Können sich ein Text über einen Text (Interpretation, Kommentar) und ein Bild eines Textes (das Gemälde eines Buches oder eines Briefes) gegenseitig austauschen? Wird der Text zum Bild dessen, was er interpretiert? Wird das Bild zum Text dessen was es interpretiert? Wird das Bild zum Text über den Text, den es ebenfalls interpretiert?

o Wie dem auch sei, beide zeigen jedenfalls das Zeigen - das Offenbaren, das Erscheinenlassen, das Sichtbarmachen, ins Licht rücken, Anzeigen, Hervorheben, Hervorbringen. Beide Zeigen, in dem sie zeigen, zugleich, das es mindestens zwei verschiedene Arten des Zeigens gibt, die sich aber dennoch nahestehen, sich gegenüberstehen, aneinandergepreßt, ineinandergespannt sind. Beide ziehen sich gegenseitig an und stoßen sich ab; beide sind füreinander anziehend und abscheulich zugleich, monstrativ und monströs. Ein monstrum ist das pro-digium, das wundersame Vor-Zeichen. Bild und Text sind einander ein Wunder.

{} Weil sie einander derart fremd sind und weil sie sich im anderen zugleich unterscheiden. Jeder erkennt im Grunde im anderen - am Grund seines Auges oder seine Kehle - einen Zug, einen vagen Umriss seiner selbst. Jeder zieht den anderen zu sich oder sich zum anderen hin. Beide sind stets gespannt. Es gibt Spannung, Zugkraft, um es gleich zu sagen, einen Zug. Gezogen und geschrieben wird von beiden Seiten einer unsichtbaren, nicht gezogenen Linie, die sich zwischen den beiden und dennoch nirgendwo verläuft. Gezogen und geschrieben wird vielleicht nur diese ungreifbare Linie selbst...

Aus: Nancy, Jean-Luc, Am Grund der Bilder, Diaphanes, Zürich, 2012